Wenige Tage bevor die Urteile gegen die neun katalanischen Politiker*innen und Aktivisten gefällt werden, die sich seit 2017 in Untersuchungshaft befinden, starten die spanischen Behörden eine Operation zur Kriminalisierung der Unabhängigkeitsbewegung und zur Demotivatierung der katalanischen Demonstrant*innen.
Am 23. September wurden neun katalanische Aktivisten von der paramilitärischen spanischen Polizei (Guardia Civil) verhaftet und wegen Terrorismus und Rebellion angeklagt. Als Beweise werden bislang Kochtöpfe und Feuerwerkskörper angeführt, die z.B. bei Stadtfesten verwendet werden. Am 26. September wurden sieben der Angeklagten ohne Anrecht af Kaution in Untersuchungshaft geschickt. Die Untersuchung wurde vom spanischen Sondernationalgericht (Audiencia Nacional) in Madrid veranlasst, das in direkter Nachfolge des früheren frankistischen „Gerichts für öffentliche Ordnung“ steht.
Diese neun Menschen, deren Verbrechen lediglich darin besteht, das Recht des katalanischen Volkes auf Selbstbestimmung zu vertreten, sehen sich derzeit dem Vorwurf ausgesetzt, Sabotageaktionen geplant zu haben. Mit zwei Ausnahmen wurden die Hausdurchsuchungen der Angeklagten ohne die Anwesenheit ihrer gesetzlichen Vertreter durchgeführt. Darüber hinaus wurden sowohl die Rechtsvertreter der Angeklagten als auch die vor Ort ansässige Anwaltskammer 48 Stunden lang darüber in Unkenntnis gelassen, welche Straftaten den Inhaftierten vorgeworfen werden.
Zwei der designierten Anwälte wurden ohne Kenntnis der Angeklagten durch Pflichtverteidiger ersetzt. Diese wurden unter unklaren Umständen in den frühen Morgenstunden des 24. und 25. September ununterbrochen sieben bzw. acht Stunden lang verhört, ohne dass dabei die gesetzliche Mindestruhezeit eingehalten wurde. Einzelheiten des Verfahrens, auf die die Anwälte keinen Zugriff haben, sind an spanische Medien durchgesickert, um so von Anfang an ein negatives Bild der Gefangenen zu zeichnen. Das Gebot der Unschuldsvermutung wurde missachtet. Diese Umstände stellen eine eklatante Verletzung des Rechts auf Verteidigung der Inhaftierten dar.
Es handelt sich um einen weiteren Versuch, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung kurz vor dem zweiten Jahrestag des Referendums vom 1. Oktober 2017 einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Dieser Versuch fällt strategisch mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem das Urteil gegen die neun katalanischen Aktivisten und Politiker*innen erwartet wird. Das Gericht wird vermutlich die Höchststrafe – bis zu 25 Jahre Gefängnis und 25 Jahre Verbot für die Bekleidung öffentlicher Ämter – verhängen. Den Angeklagten wird vorgeworfen, zu friedlichen Protesten aufgerufen und ein Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens einberufen zu haben, so wie es die erklärte Absicht der katalanischen Wähler*innen gewesen ist.
Wie auch in vielen anderen Fällen, in denen das Antiterrorgesetz angewendet wird, scheint es keine eindeutigen Hinweise darauf zu geben, dass gewalttätige Aktionen in Planung gewesen sind. Spanien hindert vielmehr erneut mit Hilfe des Strafrechts die katalanische Minderheit daran, ihre politischen Ansichten zum Ausdruck zu bringen und von ihrem Recht auf Protest Gebrauch zu machen.
Im April 2018 forderte der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit den spanischen Staat auf, die strafrechtliche Verfolgung politischer Persönlichkeiten und Demonstranten der katalanischen Minderheit nach dem Vorwurf der Rebellion einzustellen, die am Unabhängigkeitsreferendum beteiligt waren. Anfang 2019 erklärte der UN-Sonderberichterstatter für Minderheitenangelegenheiten, dass „gewaltfreie politische Dissidenz von Minderheiten nicht zu strafrechtlichen Vorwürfen führen sollte“, und schloss sich „der Besorgnis“ des UN-Sonderberichterstatters für Meinungsfreiheit bezüglich der Meinungsfreiheit an.
Die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen erklärte im Juni dieses Jahres im Zusammenhang mit der Untersuchung des Gerichtsverfahrens gegen die katalanischen Unabhängigkeitsanführer, dass „der Zweck der strafrechtlichen Verfolgung und des daraus resultierenden Verfahrens darin bestünde, die Angeklagten aufgrund der von ihnen geäußerten politischen Meinungen einzuschränken“, und forderte die spanische Regierung auf, sie unverzüglich freizulassen.
Die missbräuchliche Anwendung von Antiterrorgesetzen und weiteren Gesetzen gegen andere schwerwiegende Verbrechen wirkt sich abschreckend auf die Beteiligung der Öffentlichkeit aus. Spanien nutzt erneut das Strafrecht, um die katalanische Minderheit daran zu hindern, ihre politischen Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Infolgedessen haben viele Katalan*innen zunehmend Angst, sich am öffentlichen politischen Leben zu beteiligen.
Die zunehmende Einschränkung der bürgerlichen und politischen Rechte in einem EU-Mitgliedstaat ist ein Thema, das die gesamte Legitimität des Projekts der europäischen Integration beeinträchtigt, da es direkt gegen eines seiner wichtigsten Fundamente verstößt: die Achtung der Demokratie und der individuellen Grundrechte. Damit wird ein gefährlicher Präzedenzfall für alle europäischen Bürger*innen geschaffen.
Die Situation in Spanien und die Untätigkeit der EU-Institutionen beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als demokratisches Projekt und damit ihre Fähigkeit, Einfluss jenseits ihrer eigenen Grenzen nehmen zu können.
Assemblea Nacional Catalana
Barcelona, 1. Oktober 2019