Marina, eine Deutsche, die seit 40 Jahre in Katalonien lebt, schreibt an die Süddeutsche Zeitung.
Sehr geehrter Herr Collado Seidel,
Sehr interessant und aufschlussreich ist Ihr Kommentar zu Katalonien in der SZ vom 19.10.2012. Ich bin gebürtige Münchnerin und lebe seit 40 Jahren in Barcelona, Katalonien und sehe einges mit anderen Augen, als es heute gelehrte und gelernte Geschichtsschreiber tun. Als am 11. September 2012, unserem Nationalfeiertag, über 1 /2 Millionen Menschen auf die Strasse gingen, (das war 1/5 der Bevölkerung Kataloniens) und für die Unabhängigkeit demonstrierte, die Unabhängigkeit von einem Madrid, das nie die katalanische Geschichte und Mentalität und Sprache verstanden hat oder verstehen wollte, sondern Katalonien nur als letztes Kolonialgebiet behandelt, so waren es Leute, die mit Freude und friedlich FÚR etwas demonstrierten und nicht gegen etwas, nicht ein Hass gegen Madrid, nicht ein Hass gegen das, was anders ist, war zu spüren. Ich war dort, mit Familie, Kindern, Enkeln, und sah Menschen aus allen Altersgruppen, sah Menschen mit Kinderwägen, in Rollstühlen, hörte aber keine Drohungen, keine Schreie; bei dieser Großdemo wurde kein einziges Schaufenster zerschlagen, es herrschte Respekt vor jedem einzelnen und allem Gemeinsamen… es war einfach überwältigend.
Die sogenannte Hasstirade, als die Sie unsere Nationalhymne abwerten, ist ein Aufschrei und eine Hoffnung, dass auch mal wieder die Tage kommen, wo man die Ketten zerreissen kann. Sie als Geschichtler dürften wissen, wie hart Katalonien und alles was katalanisch roch, seit Jahrhunderten mit unzähligen Gesetzten unterdrückt wird. Würden Sie vielleicht Verdis “il pensiere” oder die franz. Nationalhymne auch als Hasstirade bezeichnen?….Bitte schüren Sie doch nicht noch mehr die Abneigung, die die grossen Parteien,Sozialisten und PP in ganz Spanien gegen Katalonien aussäen, um ihr eigenes Wahlpotential zu erhöhen.
Sollten Sie nach Barcelona kommen, so lade ich Sie gerne ein und zeige Ihnen die Katalanen, die durchaus keinen Hass gegen Madrid verspüren, sondern lediglich sich selbst verwalten wollen, nach Jahrhunderten der Unterjochung, Unterdrückung und Verachtung von Seiten jener, die am meisten von Katalonien profitieren.
Mit freundlichen Grüssen und visca Catalunya lliure.
Marina